Trauer & zwei Schwimmflügel für die Seele

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Vor einer Zeit nahm sich ein naher Freund von mir sein Leben. Obwohl ich akustisch und inhaltlich alles verstanden hatte, brauchte ich drei Tage, bis diese Nachricht in vollem Ausmaß bei mir ankam.

In der Stille eines Sonntagabends nach einem Wochenende voller Besuch wurde mir plötzlich klar: Nie mehr. Nie mehr würde ich neben ihm sitzen und seine Güte spüren. Nie mehr dieses schiefe Lächeln unterm Schnurrbart sehen. Nix mehr fragen können, nix mehr sagen können. Einfach nix.

Ich dachte, ich könnte weitermachen wie gehabt. Ging ja schließlich vielen Leuten so. Irgendwann erwischt das Jeden, dass er mit dem Tod eines nahen Menschen zurechtkommen muss. Kommt ja keiner von uns lebendig hier raus. Tatsächlich gingen die Menschen um mich herum schon bald zur Tagesordnung über – während ich gefühlt im Stockdunkeln in einer Nuss-Schale auf einem See aus Schmerz paddelte. Wo um Gottes Willen kam all dieser Schmerz her? Und überhaupt: Gottes Wille. War das Gottes Wille? Früher wurde denen der letzte Segen verweigert, die sich selbst getötet hatten. Wegen der Gott-ins-Handwerk-gepfuscht-Sache.

Ich glaube nicht daran. Ich glaube nicht daran, dass es eine alles umspannende, alles durchdringende unfassbar geniale Kraft gibt, der wir! durch unser Handeln die Suppe versalzen können. Wir!

Ich hab vorher nur geahnt, warum man zu “bohrende Fragen” “bohrende Fragen” sagt. Irgendwann ließ ich einfach los. Ich ließ die Faust, die mein Herz zusammendrückt, da sein und hörte auf, den Fragen Antworten zu suchen. Ich ließ mich weinen – eigentlich weinte “es”. Es weinte praktisch aus mir heraus. Ich ließ mich da sitzen und die Tischplatte angucken. Sagte alles ab. Hörte auf, mit Menschen darüber zu sprechen. Sie redeten eh nur immer das gleiche, vielleicht gibt es ja irgendwo eine Dialogempfehlung für Suizid-Übriggebliebene.

Der häufigst gehörte Satz: “Du hättest nichts tun können”. Dicht gefolgt von “Es war seine Wahl” und Spekulationen darüber, dass es ihm dort, wo er jetzt ist, besser geht. Ich selbst hätte bis vor Kurzem mit Sicherheit die gleichen Sätze gesagt. Hätte auch nicht das Rückgrat gehabt, einfach mit jemandem in seinem Schmerz zu sein und zu erlauben, dass er untröstlich ist. Nur ich war da, die mir das erlaubte. Ich erlaubte mir, untröstlich und vollständig im Eimer zu sein. Nix ging mehr.

Im Sturm der Gefühle


Es war, als habe der Freund mich durch sein Gehen an diesen großen und tiefschwarzen See aus Schmerz geführt. Extra. Als eine Art letzten Gefallen. Ich glaube, jeder Abschied, den ich nicht betrauert hatte, war in diesen See hineingeflossen. Lebensabschnitte und deren Gefährten, Familienbrüche, Jobwechsel, ad acta gelegte oder verleugnete Träume. Überall da, wo ich schnell weitergegangen – mich nach vorne ausgerichtet habe – ist wohl ein Tröpfchen ungefühlter Schmerz in den See geflossen. Tränen fließen nach innen, wenn sie nicht nach aussen fließen dürfen.  Und der See hat geduldig gewartet. Bis jetzt. Was für ein Geschenk!

Tiefe Trauer, Wut, bodenlose Angst des kleinen Mädchens in mir, das einen väterlichen Freund verloren hat. Sich betrogen fühlen. Hast du nicht immer gesagt, das Leben sei schön? Dazwischen Dankbarkeit. Alles drin. Oft fühlte es sich nach Kentern an. Wann kommt das Bordpersonal mit der Rettungsweste? fragte ich mich. Aber auf einer Nuss-Schale gibt es kein Bordpersonal.

SCHWIMMFLÜGEL Nr. 1
Achtsamkeit in einer neuen Dimension


In diesem Moment erinnerte ich mich an eine meiner größten Ressourcen: Ich bin ein Tiefwurzler. Ich habe stabile und weit hinunterreichende Wurzeln. Und der verlässlichste Wurzelraum, den ich kenne ist das JETZT. Freilich – Achtsamkeit ist schon längst ein Thema für mich, für meine Arbeit. Das mit allen Sinnen anwesend sein im gegenwärtigen Augenblick. Klar doch.

Nur jetzt schien es geradezu überlebensnotwendig geworden zu sein. Es äußerte sich über meine Hände. Meine Hände sind die meist genutzten Fühlwerkzeuge und damit helfen sie mir, im Hier und Jetzt da zu sein und den verrücktgewordenen Gedanken ihre Macht zu nehmen. Ich hielt mich mit den Händen in der Gegenwart fest. Beim Abspülen, beim Wäschezusammenlegen, beim Gemüseputzen. Da war es, dieses beruhigende Gefühl: Ich hab was in der Hand. Wenn es sich auch anfühlt, als sei alles in Auflösung. Da sind Sachen, die ich in der Hand habe. Deren Oberfläche ich spüre, deren Temperatur und Gewicht. Ich brauchte es, im Unfassbaren ein Begreifen zu erleben.

SCHWIMMFLÜGEL Nr. 2
Schöpfung in ihrer einfachsten Form

Kreative Höhenflüge waren nicht drin. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, keine komplizierten Konstruktionen bauen, nicht bloggen, nicht posten. Dennoch war es mir möglich, schöpferisch zu sein. Auf die einfachste Weise. Ich merkte, wie schlichte Formen mir guttun und modellierte Äpfel und Birnen. Ich strickte und im Stricken kam die Gewissheit, dass ich den Faden meines Lebens wieder aufnehmen können werde. Dass sich diese Ungeheuerlichkeit einfügen wird wie sich die Wolleschnur in den Pulli fügt.

Dort wo was vergeht, etwas Neues zu erschaffen. Etwas zu gestalten. Ich habe eine Wahl. Kleinste Wählchen, ganz aus dem Bauch heraus. Welche Farbe? Welche Form? So oft bleibt mir nur übrig, hinzunehmen, welche Wahl andere treffen. Im Leben anderer hab ich so wenig Einfluss. Ja, auch in meinem eigenen Leben gibts Bereiche, in denen ich nicht volle Gestaltungsfreiheit empfinde. Aber es gibt Bereiche, in denen es auf meine Wahl ankommt. Meine ganz persönliche. Was ich anziehe, wie ich die Pizza belege, welche Blumen ich in welcher Vase arrangiere. Überall da gibts Gestaltungsspiel für mich. Ich habe das gewählt. Ich habe das geschaffen. Ich bin Schöpferin.

Ich glaube, es ist ein Verbund aus diesen beiden Schwimmflügelchen, der dazu führt, dass in so vielen Kliniken der Psychosomatik Handarbeiten und Gestalten zum therapeutischen Angebot gehört. Viele entdecken erst dort, wie gut ihnen das tut. Der Kopf kommt zur Ruhe und widmet sich seiner Aufgabe anstatt immer gleiche Geschichten zu erzählen. Es ermächtigt uns. Wir haben Einfluss und Ausdruck. Selbst in schlimmer seelischer Not. Selbst dort, wo das Gespräch vielleicht nicht mehr oder noch nicht durchkommt – weil die Worte fehlen.

HANDREFLEXZONEN
Hände als Spiegel

Ich glaube, es gibt noch einen weiteren Grund, warum Handarbeiten so sehr guttut. Hast du gewusst, dass sich wie in unseren Füßen auch in den Händen unsere Organe wiederspiegeln? Mit den Händen zu malen, zu modellieren oder auch zu filzen, streichen, streicheln – egal was: jeder Griff ist wie eine Massage, die wir uns selbst geben.

In der alten japanischen Heilkunst Jin Shin Jyutsu werden sogar einzelne Emotionen wie Wut, Angst oder Kummer Fingern und Handteller zugeordnet.

Ich bin keine Fachfrau auf diesem Gebiet und gehe in meinem Leben wie in meiner Arbeit mehr nach dem “Was tut gut?”-Verfahren vor als durch Wissen. Sicher scheint mir, dass unsere Hände mit ihren 17.000 Fühlkörperchen kleine Wunderwerke sind. Dass wir Menschen durch und mit den Händen heilen und harmonisieren können.

Was für brillante Konstruktionen! Es ist einfach unfassbar, was unsere Hände alles können. Unterschätzen wir unsere Hände nicht. Unterschätzen wir Handarbeit nicht. Sie ist heilsam. Viel heilsamer als wir mit dem Kopf “begreifen”.

Alles Liebe,

Petra

Ich habe in dieser Zeit diese beiden Bücher zum Thema Tod & Trauer gelesen. Sie erwiesen sich als Glücksgriffe und ich kann sie dir gerne empfehlen, wenn du auf der Suche nach mehr Lesestoff bist:

“Das Letzte Fest – Neue Wege und heilsame Rituale in der Zeit der Trauer” von Nicole Rinder und Florian Rauch, Irisiana-Verlag
So heilsam, so unkonventionell, so nah am Menschen dran und mit ganz viel Einladung zu Gestaltung.

“Ich konnte nichts für dich tun – Trauern und weiterleben nach dem Verlust durch einen Suizid” von Eva Therhorst, Herder-Verlag
Hier wird sehr auf die Besonderheiten des Trauerns nach einem Freitod eingegangen, auch in Bezug auf Traumata und der Tabuisierung. Es ist fast ein wenig wissenschaftlich  – durchleuchtet aber einfühlsam und unterbreitet viele Angebote zu weiterer Hilfestellung.

In meinen Blogartikeln schreibe ich über meine persönlichen, selbstgemachten Erfahrungen. Nimm dir, was dich bewegt – den Rest vergiss getrost. Weder muss ich meine Erfahrungen an deine anpassen, noch du deine an meine. Alles ist in stetiger Veränderung und nichts ist hier in Stein gemeißelt. Ich bin frei und du auch.