Off-Road fahren und mit dem “Inneren Kritiker” sein

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Völlig risikofrei könnte ich Wetten mit hohem Einsatz abschließen, denn es geschieht IMMER. Es gibt kein einziges Projekt, in dem nicht wenigstens einmal meine ehemalige Kunst- und Werklehrerin Frau Switek auf meiner inneren Bühne erscheint.

Von Frau Switek habe ich einiges gelernt. Dafür bin ich ihr dankbar. Frau Switek wars allerdings auch, die zu mir gesagt hat, dass ich zwei linke Hände habe.

Im Angesicht der damaligen Aufgabe kann ich diese Interpretation sogar verstehen. Heute. Denn es handelte sich dabei weder um das Material, das mir liegt noch dem Format, noch war mir der Sinn eines solch seltsamen Objekts klar. Es ging um das Biegen einer…… Briefmarkenzange. Aus Draht.

Ich grollte Frau Switek lange. Und nicht nur ihr. Allen, die Dinge gesagt oder getan haben, die mich in meiner erwachenden Kreativität und jungen Selbstwerdung beschämt, verletzt und unnötig korrigiert haben. Im Laufe eines Lebens sind das nicht wenige. Das geht allen so. Oder sagen wir: den meisten.

Warum wird Kreativität so oft verletzt?

Es ist oft ganz simpel: Die, die verletzt wurden, verletzen. Die, die beschämt wurden, beschämen. Es wird weitergegeben, was schmerzhaft war – im unbewußten Versuch diesen Schmerz loszuwerden. Es ist nicht immer so, aber oft: An vielen pädagogischen Stellen sitzen blockierte Künstler, die sich gegen das freie Ausleben ihrer Kunst und für die Sicherheit eines artverwandten Jobs entschieden haben. Wie also kann ich der freien Kreativität meiner Schüler Raum geben, wenn ich es meiner eigenen versage?

Die Verletzung heilen – dem “Inneren Kritiker” begegnen

Ich probierte so ziemlich alles Handelsübliche aus, um die Stimmen von Frau Switek & Co für immer zu verbannen. Alkohol, positives Denken, den Kritikern Briefe schreiben (und verbrennen). Und so weiter und so fort.

Was davon funktioniert hat? Nichts. Warum? Es ist nicht Frau Switek, die in Minute 48 oder sonstwann während des Werkens zu mir spricht. Es ist das Mädchen, das ich mal war. Damals im Werkraum. Mit undefiniertem Drahtgebilde in den schwitzigen Händen. Und feuerrotem Kopf. Es ist als ob es sagt: “Lass das lieber. Hast du nicht gehört, was Frau Switek gesagt hat? Siehst du nicht, wie es mir gerade geht?”

Ich kann dieses Mädchen nicht davon überzeugen, dass es keine Angst zu haben braucht – denn wir befinden uns in unterschiedlichen Zeitzonen. Mit diesem Mädchen verhält es sich so, wie mit unserem Navi im Auto. Das ist nicht auf dem neuesten Stand. Deshalb blinkt in unserem Navi der Begriff “Off-Road” auf, wenn wir auf einer Straße fahren, die es nicht kennt. Auf dem Display ist zu sehen, wie wir direkt durch die Pampa fahren. In der Realität fahren wir aber auf einer Straße. Auf einer nigel-nagel-neuen Straße. Sehr gut sogar.

Das Mädchen, das mir immer wieder “zwei linke Hände” zuflüstert, ist etwa 10 Jahre alt. Es weiß nicht, dass ich heute 43 Jahre alt bin und dass dazwischen zahlreiche Werkelstunden und Lebenserfahrungen liegen. Es weiss nicht, dass meine Hände größer und geschickter geworden sind und dass es – nebenbei – auch nicht tödlich ist, ausgelacht und kritisiert zu werden. Es weiss es einfach nicht. Aber ich weiss es. Für das Mädchen bin ich also “Off-Road” unterwegs. Wie verständlich ist es doch, dass es versucht, mich zurückzuhalten.

Ich habe tiefstes Mitgefühl mit diesem Kind. Und ich verstehe es gut. Ich verstehe es genauso, wie ich verstehe, dass unser Navi “Off-Road” meldet und vorschlägt zu wenden. Und ganz ähnlich wie auf der Straße, die es angeblich nicht gibt, verhalte ich mich auch beim Werken. Ich verstärke meine Präsenz, achte darauf, was hier und jetzt geschieht und….. fahre weiter.

Ins Neuland hinein – denn jeder kreative Prozess ist Neuland. Jedesmal dehne ich mich rein in das was ist und werden möchte – ohne abzutun, was war. Denn das kleine Mädchen wird immer da sein. Und das darf es auch.

Alles Liebe für dich
und deine kleine Kritikerin,
deinen kleinen Kritiker,

Petra

In meinen Blogartikeln schreibe ich über meine persönlichen, selbstgemachten Erfahrungen. Nimm dir, was dich bewegt – den Rest vergiss getrost. Weder muss ich meine Erfahrungen an deine anpassen, noch du deine an meine. Alles ist in stetiger Veränderung und nichts ist hier in Stein gemeißelt. Ich bin frei und du auch.

9 Antworten auf „Off-Road fahren und mit dem “Inneren Kritiker” sein“

  1. Liebe Petra, das hat mir mal wieder richtig gut getan! Ich freue mich immer sehr über Deine wunderbaren Arbeiten – im Plastischen und im Wörtlichen. Beides strahlt so viel Liebe aus. Was Du schaffst scheint zu schweben zwischen den Abgünden der Angst und dem Himmel des Glücks. Ich bewundere die unverdrossene Zartheit mit der Du dies schaffst.

    Harald

  2. Lieber Harald,

    seit 10 Minuten sitze ich hier und bewege die Wort-Kombination “unverdrossene Zartheit”. Sie hat das Zeug dazu, ein richtiges Motto zu werden. Und sie hat etwas so Leichtes, Luftiges. Kann ich gut gebrauchen! Ich glaube, ich fülle sie mir in kleine Behälter ab. Und dann, wenns mal schwer ist, dann öffne ich den Deckel…vorsichtig… und atme sie tief ein. Danke dir für dein Schreiben! Ich freu mich sehr darüber!

  3. Liebe Petra,
    danke für diesen Artikel. Ich erkenne mich wieder.
    Es ist so traurig. Alle kleinen Kinder sind großartige Künstler, was sie erschaffen ist absolut erstaunlich. Dann kommen sie in den Kindergarten und in die Schule und sämtliche Großartigkeit wird gnadenlos zertrampelt. Anders kann man es nicht nennen. Wir müssen in Schubladen passen.
    Ich gehöre auch dazu. Ich weiß nicht mehr, wie meine Werke als kleines Kind waren … ich weiß nur, dass ich als Erwachsene immer den Drang zu malen hatte … nur das was da in meinem Kopf war kam nie so aufs Blatt.
    Es war “falsch”. Nie gut genug für den inneren Kritiker.
    Heute bin ich 60 (fast). Ich probiere es weiter, hole mir Inspiration aus dem Internet, denn meine eigene ist … ich weiß nicht, wo – irgendwo verschollen. Ob meine eigene Kreativität noch mal zum Vorschein kommt …. das steht in den Sternen.
    Eigentlich ist es aber völlig egal. Ich pantsche mit meinen Farben, weil es Spaß macht. Keiner kriegt es zu sehen, außer mir. 🙂
    Danke für deine Ermutigung!!
    Helga

  4. Liebe Helga,

    ich freu mich sehr, dass du schreibst! Hoffentlich trete ich dir nicht zu nahe, wenn ich dir sage, dass ich in deinen letzten Sätzen eine ganz freie, freche Deern wahrnehme 🙂 Sie hat was verschmitztes und scheint es zu lieben, mit dir zusammen ein Geheimnis zu haben.

    Wie schön, dass du ihr Raum gibst! Mit deinen Gedanken bist du nicht alleine. Ich denk manchmal auch, dass ich gern freier wäre. Dann merke ich, dass ich mich damit ja auch als “falsch” bezeichne. Ich glaube, dass es so wie es ist angemessen ist und es einen Grund dafür gibt. Alles, was zu tun ist, ist unserem Ausdruck einen sicheren Raum anzubieten und uns beim Probieren der gütige Begleiter sein, den wir uns für uns wünschen. Dir weiterhin viel Farbenfreude, Helga!

  5. Hallo Liebe Petra,
    ich danke Dir ganz herzlich für deinen wunderbaren Beitrag. Er ist wieder so schön und berührend und liebevoll und authentisch. Einen ganz wunderbaren, heilsamen Raum lässt Du da für uns entstehen.
    DANKE SCHÖN
    Alles Liebe, Jeanne

  6. … und jeder Einzelne stattet diesen heilsamen Raum mit seiner Präsenz aus, Jeanne. Ich freu mich, dass du geschrieben und dich als ein Teil dieses Raumes sichtbar gemacht hast. Es ist schön, dieses Leuchten zu sehen. Mir ist gerade, als säßen wir am Kachelofen und teilten Licht und Wärme miteinander. Danke, Jeanne!

  7. Liebe Petra, deine Worte sind zu Herzen gehende farbentrunkene Seeleneinsichten, du hast ein inneres Leuchten. Ich danke dir für deinen angstfreien Umgang mit Pathos. Das meine ich ganz und gar liebevoll, denn in unserer ach so kopflastigen Welt verliert sich das große Gefühl und dem Bedürfnis die innere Fülle im verbalen Außen leben und gestalten zu dürfen. Deshalb weiten wir unsere Flügel erheben uns nach innen und tauchen lachend ein in unseren inneren geschützten Raum der sich auch im Außen erleben darf.

  8. Wie wendig deine Gedanken sind, Lucia. “…erheben uns nach innen”, das ist eine schöne Vorstellung. Bisher habe ich mit dem Nach-innen-wenden eine Bewegung in die Tiefe verbunden, ein Hinuntersinken auf meinen Grund. Du bringst da eine ganz neue Perspektive ein. “… erheben uns nach innen”, das nehm ich mit in meine Abendruhe. Danke dir!

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